Freitag, 18. August 2017

KUNST und Haltung

(c) AFP (Josep Lago)
Die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem (Nazi-Skandal!), Manager haben ein Haltungsproblem (Diesel-Skandal!), die Politik hat ein Haltungsproblem (Verwicklungsskandal!), die katholische Kirche hat ein Haltungsproblem (Missbrauchsskandal!), Islamisten sowieso. Die ganze Welt hat offenbar ein Haltungsproblem. Selbst Gott hat eins. Oder ist die Theodizeefrage, also die Frage, ob es Gott gibt, und wenn ja, warum er dann so viel Leid zulässt, etwa etwas anderes, als die Frage, ob Gott ein Haltungsproblem hat? Die Revolution, die im 18. Jahrhundert gemeinsam mit anderen Kollektivsingularen, zu denen auch die Kunst gehört, Gott abgelöst hat, hat mittlerweile auch ein Haltungsproblem (Venezuela). Und immer wird das Ganze von noch schlimmeren Krisen überschattet: Von einem US-Präsidenten, der einen Atomkonflikt mit dem Iran und Nordkorea riskiert, von immer neuen unschuldigen Gefangenen in der Türkei, von immer neunen Opferrekorden, die der Terror aufstellt.
Auch die Kunst, um die es hier geht, hat ein Haltungsproblem: Es geht bei engagierter Kunst immer um die ganz großen Fragen, die sich kritisch mit unserem System auseinandersetzen, vor allem mit Kapitalismus und Neoliberalismus, die sich um die Flüchtlingskrise drehen, um Vergangenheitsbewältigung, um die Verbrechen des Nationalsozialismus und Kolonialismus, um Genderisierung oder um die Umwelt. Sie hat sich darin auf redliche Weise, indem sie zuvor etwa irgendwelche kleinen Fragen beantwortet hätte, die das Tagesgeschehen betreffen, aber keine Kompetenz erworben, sodass es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, wodurch die Kunst diese Kompetenz für die großen Fragen überhaupt besitzen sollte oder, weniger geringschätzig vielleicht, woher ihr Verantwortungsgefühl kommt. Jedenfalls nicht, indem sie zuvor irgendwelche kleinen Fragen beantwortet hätte. Die das wären: Ob es Unrecht war, dass Niedersachsens MP Stephan Weil seine Rede vorab bei VW vorgelegt hat oder dass Baden-Württembergs grüner MP Winfried Kretschmann einen Diesel, also einen Luftverpester, fährt. Die Frage, ob Christian Wulff als Ex-Bundespräsident für ein türkisches Bekleidungsunternehmen arbeiten darf oder ob er damit nicht gegen die Würde des Amtes verstößt und sein Anrecht auf den Ehrensold in Höhe von jährlich 236.000 Euro verliert. Genauso was mit Gerhard Schröder ist und seinem Aufsichtsrat-Job bei Rosneft. Warum sich in Köln nur so wenige Muslime am Friedensmarsch gegen Gewalt und islamischen Terror beteiligt haben und warum abermals – diesmal in Barcelona – eine Verrückter in eine Menschenmenge fuhr.
Es geht bei engagierter Kunst immer um die ganz großen Fragen, aber sie beteiligt sich nicht (oder nur sehr selten) an den kleinen. Am, wie man so schön sagt, „Tagesgeschäft“.
Doch wird die Kunst im öffentlichen Diskurs darüber überhaupt vermisst? Gibt es eine Mehrheit, die sich darüber beklagt, dass Kunst sich an Diskussionen über das Tages- oder Wochengeschehen, die täglich in den Medien oder Sozialen Netzwerken stattfinden, nicht beteiligt? Oder umgekehrt dass solche Debatten im Feld der Kunst nicht stattfinden?
Beziehungsweiße steht Kunst überhaupt in der Verantwortung sich am Tagesgeschehen zu beteiligen? Sich mit kleinen Fragen aufzuhalten? Oder verliert sie dadurch nicht sogar ihren Glanz? Zur Qualität  großer Kunst zählt zwar, dass sie nah am Zeitgeist ist, aber gleichzeitig auch zeitlos und universell.
Auf der anderen Seite: Wenn Kunst sich schon für die großen Fragen verantwortlich fühlt, ist sie dann nicht umso mehr auch für die kleinen verantwortlich? Und erwartet man nicht – wenn sie schon die großen Fragen behandelt – dass sie zuvor bereits Antworten auf die kleinen gefunden hat?
Kann man die Kunst vielleicht ein bisschen mit der Kirche vergleichen, von der sich einstmals – es ist vielleicht noch gar nicht so lange her – viele Schäfchen gewünscht hätten, dass sie sich mehr ins Tagesgeschehen einmischt, dass die Kirche sie mehr bei den kleinen, alltäglichen Fragen des Lebens unterstützt, die sich dazu aber nicht herabgelassen hat? Dadurch immer mehr an Einfluss und Bedeutung verlor, sodass sich heute kaum jemand mehr dafür interessiert, was sie zu den großen Fragen, zur Abtreibung oder Home-Ehe etwa, zu sagen hat. Die Kunst fühlt sich verantwortlich für die großen Fragen, kann aber keine Antworten auf die kleinen finden oder interessiert sich gar nicht erst dafür.
Einerseits, ganz praktisch, kann man mit Kunst gar nicht schnell genug reagieren auf Dinge wie Dieselgate, Nazi-Vorwürfe gegen die Bundeswehr, Air Berlin-Pleite oder Leitkultur. Zwar können sich Künstler wie alle anderen am öffentlichen Diskurs beteiligen, aber ehe ein Kunstwerk – ein Kunstwerk als Beitrag zu einer Debatte – fertig wäre, würde schon längst wieder ein neues Problem auftauchen und das alte in Vergessenheit geraten.
Andererseits stellt sich bei Problem, die so gravierend sind, dass genug Zeit wäre, sich künstlerisch damit auseinanderzusetzen, die Frage, ob Kunst überhaupt ein angemessenes Mittel ist, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, ob Kunst diesem Thema gerecht werden kann und seitens der Künstler sogar, ob es moralisch richtig ist, daraus Kunst zu machen.
Sicher, man kann hier entgegnen: Was ist denn mit all der Kunst, die in Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus geschaffen wurde? Stolpersteine. Das Holocaustdenkmal. Sind die etwa unangemessen? Verfehlen die etwa ihre Wirkung? Sind Sie nur angemessen, weil die Nazizeit vorbei ist und der Schrecken nicht mehr gegenwärtig?
Gegenfrage: Würden heute in Deutschland noch Unschuldige vom Staat nur wegen ihres Glaubens aus ihren Häusern verschleppt werden mit der Gewissheit nie wieder zurückzukommen, wären dann Stolpersteine, die jetzt gerade wieder wahlkampfmäßig von Bundestagskandidaten poliert werden, eine angemessene Auseinandersetzung oder ein schöner Trost?
Die Diskussion um das geplante Einheitsdenkmals „Bürger in Bewegung“, das vor dem Haupteingang des Humboldtforums errichtet werden soll und dessen Einweihung für 2019 angesetzt ist, zeigt, wie erheblich heute die Zweifel am Sinn solcher Erinnerungs- beziehungsweiße Mahnungskunst sind.
„Bürger in Bewegung" soll ein Denkmal werden für die friedliche Bürgerbewegung, die dafür gesorgt hat, dass die Mauer fiel. Aber ist es auch ein angemessenes Denkmal für die 139 Menschen, die beim Versuch, die Mauer zu überqueren, von DDR-Grenzwächtern erschossen wurden? Oder für die 1274 Menschen, die beim waghalsigen Versuch, über die Ostsee aus der DDR zu fliehen, ertranken oder an Erschöpfung und Unterkühlung starben?
Hanno Rauterberg nennt in einem Feuilletonstück in der ZEIT („Tanz der Tugendwächter“, ZEIT Nr. 31 vom 27.07.2017) Beispiele, in denen eine falsche Haltung sogar Anlass für Kulturkämpfe war: Schwarze gegen Weiße im Falle Kelley Walkers, einem Künstler, der in Fotoarchiven nach Bildern von Protesten der Schwarzen in den 60ern sucht und diese mit Schokolade auf Leinwand druckt. Afroamerikanische Museumsmitarbeiter fühlten sich davon diskriminiert und sind gemeinsam mit einer Petition gegen ihn vorgegangen.
Oder Ureinwohner gegen diejenigen, die ihnen einst ihr Land weggenommen haben. So
brachten Nachfahren von Indianer mit Parolen wie „Unser Völkermord ist nicht eure Kunst!“ und indem sie 200 Dollar auf sein Skalp aussetzten, den Künstler Sam Durant, der keine indianischen Wurzeln hat, dazu, seine Installation zu zerstören, die an den Massenmord an den Indianern erinnern sollte.
Für diejenigen, die auf der Seite der Kunst stehen, gibt es keine Bedenken, dass es bei Kunst um die großen Fragen geht, deren Spanne von Wiedergutmachung bis Systemkritik reicht. Für alle anderen allerdings schon.
Die Kunst hat also ein Kompetenzproblem, das man am besten versteht, wenn man sich folgendes vergegenwärtigt: Es gibt für die meisten Menschen drei Arten von Kunst. Kunst, die schön ist, Kunst, die sie nicht verstehen und Kunst, die sich für irgendetwas einsetzt.
Wenn Kunst in der Wahrnehmung der meisten Leute aber entweder einfach nur schön oder im anderen Fall schlicht unverständlich ist, dann zweifeln sie zurecht an der Kompetenz der Kunst in den großen Fragen.
Diese Zweifel würden nicht bestehen, wenn Kunst mehrheitlich – und nicht bloß von Künstlern – als oberste Instanz angesehen werden würde. Weil hinter jeder Kunst ein Mensch steckt, stellt sich stattdessen aber die Frage, woher wiederum ein Künstler die Kompetenz für Kunst besitzen sollte, wenn Kunst für ihn das Allergrößte ist, es für ihn bei Kunst dementsprechend um die ganz großen Fragen geht und es nur eine einzige einheitliche Definition von Kunst gibt, die lautet: Niemand weiß, was Kunst wirklich ist.
Und ständig vermischen sich beide Fragen miteinander: Ist es nun die Kunst, die für die großen Fragen verantwortlich ist oder der Künstler, der sich angesichts seiner Aufgabe, Kunst zu produzieren,  der Anspruchshaltung Kunst, für die großen Fragen verantwortlich fühlt.
Dieses Haltungsproblem diagnostiziert auch Kritikerlegende Jerry Saltz der Kunst in einem Beitrag, der jetzt erst auf Deutsch auf art-magazin.de erschien. (http://www.vulture.com/2017/06/looking-for-new-electricity-in-the-mostly-static-art-world.html)
 Mit deutlicher Verspätung, denn darin bezieht sich Saltz auf die Ausstellung "Wrong Side of History", die vom 18. Mai bis 9. Juli in der New Yorker Galerie Bullet Space lief. Er beklagt: „Wir sind gegenwärtig Zeugen eines politischen Paradigmenwechsels, und angesichts der großen Umwälzungen und Risiken fühlt sich die Wirklichkeit außergewöhnlich lebhaft an. Doch je gründlicher ich nach ähnlichen Lebenszeichen in der Kunstwelt Ausschau halte – was ich stets tue – desto frustrierter bin ich.“
Liest man Saltzs Text bekommt man folgenden Eindruck: Das Mitgefühl vieler Künstler ist entweder gar nicht echt und sie versuchen, öffentlichkeitswirksam auf einer Welle der Solidarität mitzuschwimmen, beschäftigen sich bloß zu ihren eigenen Gunsten mit diesem Thema. Oder sie schnappen sich ein ernstes Thema, weil sie kein eigenes haben, sich menschliches Leid, ganz egal ob eigenes oder das von anderen, aber immer besonders gut zu Kunst verarbeiten lässt.
Eine Teufelsspirale, denn je heftiger das Unrecht und die Ungleichheit auf der Welt (in Gestalt der anströmenden Flüchtlinge zum Beispiel) an unsere Türen klopfen, desto beschämender erscheint es, sich mit den eigenen Problemen zu beschäftigen und die eigenen Probleme zum Gegenstand der Kunst zu erheben, die im Vergleich zu den großen Menschheitsproblemen geradezu mikroskopisch klein erscheinen.
Doch wäre dieser Umstand nicht eigentlich das viel geeignetere, ehrlichere Thema für Kunst? Also dass Kunst mit dem Glauben daran zusammenhängt, man selbst sei etwas Besonderes, dem Wunsch, besondere Dinge zu tun, die jedoch nach Krisen, wie wir sie in letzter Zeit erlebt haben, sagen wir Terroranschläge, auf tragische Weiße mit der Realität zusammenprallen und der traurigen Erkenntnis, wie wenig man mit Kunst tatsächlich bewegen kann. Und empfinden dieses Gefühl nutzlos zu sein, den Dingen machtlos gegenüber zu stehen, nicht alle? Aber hat nicht gerade der Künstler ganz besonders das Recht dazu, daraus Kunst zu machen, weil er dieses Gefühl, das alle teilen, vielleicht tausendmal stärker empfindet als alle anderen, weil bei ihm das Gefälle so groß ist zwischen seinem hohen Ideal von Kunst, zwischen dem, was er mit Kunst vorhatte und dem was man mit Kunst tatsächlich erreichen kann. Natürlich nur wenn diese Einsicht, wenn diese Gefühle auch echt sind.
Hätten in einem solchen Fall Zweifel an der Kompetenz oder Authentizität überhaupt noch eine Berechtigung?
Leider bekommt man in letzter Zeit eher den Eindruck, dass Künstlern oder Kuratoren die hohe Kunst der Selbstreflexion abhandengekommen ist. Dass sie vielleicht sogar ernsthaft an eine Überlegenheit in allen moralischen Fragen glauben, die den Künstlern von Natur aus gegeben ist. Wie sonst soll man sich die diesjährige Biennale erklären, vor allem die von Christine Macel kuratierte Hauptausstellung auf dem Arsenale, auf der einem ein Foto, das den auf einer Museumsbank schlafenden Künstler Mladen Stilinović zeigt, als wertvolles, lehrreiches Statement zum Leistungsdruck, unter dem jeder heute leidet, verkauft wird? Glaubt man an so eine Überlegenheit, sieht man natürlich keine Notwendigkeit mehr für besonders großen Einsatz.
Das ist auch Saltzs zweite Hauptkritik: Die Auseinandersetzung politischer Kunst mit der Wirklichkeit ist nicht intensiv und das Ergebnis schlichtweg nicht gut genug.
Problematisch ist nicht das Anliegen ihrer Arbeiten (wir nehmen alle gleichermaßen Anteil), ihrer Thematiken oder ›Ernsthaftigkeit‹. Niemand meint, dass Kunst bloß lieblich, albern, zugänglich oder schön zu sein habe, oder gar dass ernsthafte Themen nicht in den Bereich der Kunst fielen. (...) Problematisch ist jedoch, wie unoriginell, nachgeahmt, offensichtlich und trivial die Arbeiten sind. Und wie ähnlich sie einander sehen.“, so Saltz.
Saltz’s Schluss: Der Kunst fehle eine dritte Ebene – abgesehen von Politik und Bild. Mit dritte Ebene meint er das, was eine Sache überhaupt erst zur Kunst macht:  Das unsagbar Schöne, Ergreifende, Erhellende, Aufrüttelnde, Berührende oder im Gegenteil Erschütternde. Im Kern: Politischer Kunst fehlt das eigentlich Kunsthafte. 
Auch Rauterberg diagnostiziert diesen Mangel: „Viele interessieren sich selbst nicht mehr für Formfragen, eher schmückt man sich mit politischen Botschaften und übt kritische Tugendhaftigkeit.“ Wir erleben also ein Blüte politischer, aktivistischer, engagierter Kunst und das gleichzeitige Verschwinden echter Kunst. 
Das heißt: Obwohl Kunst für Künstler das Allergrößte ist und es deshalb für sie bei Kunst automatisch oder unvermeidlich um die großen Fragen geht, ist deren Auseinandersetzung mit diesen Fragen nicht von einer Intensität, die man angesichts der Schwere der Themen erwarten würde – sei es aus Unvermögen, aus Überforderung oder im schlimmsten Fall weil sie zu Unrecht glauben, dass einer Sache, einfach schon indem sie sich mit ihr beschäftigen, etwas Kunstmäßiges anhafte und das ausreiche. Dementsprechend ist die Qualität der Kunst gering, damit auch der Gewinn, den man daraus ziehen kann, sodass das Publikum an ihrer Kompetenz in den großen Fragen zweifelt. Die Schuld daran trägt der Künstler der ihre beziehungsweiße seine eigene Zuständigkeit nicht in Frage stellt. 
Was ist denn mehr Kunst? Wenn 120 Bundestagsabgeordnete der Grünen und Linken im Rahmen einer von der Seenotrettungsorganisation Seawatch organisierten Aktion Flüchtlinge spielen und in einem wackligen Schlauchboot vor dem Bundestag in die Spree steigen oder wenn Ai Weiwei ein 70 Meter langes Flüchtlingsboot mit 258 überlebensgroßen Flüchtlingspuppen als Insassen in der Prager Nationalgalerie von der Decke hängen lässt?
Wenn der italienische EU-Parlamentarier Gianluca Buonanno als Merkel verkleidet die Rede von Jean-Claude Junker stört oder wenn sich Ai Weiwei auf einem Foto ausgibt als die am Strand von Bodrum angespülte Leiche des dreijährigen Aylan Kurdi?
Und warum ist es keine Kunst, wenn Ex-Präsident George W. Bush sich als Maler betätigt? Warum sind die Bilder von George W. Bush keine Kunst? Vielleicht nicht die Hundebabys, aber die Werkreihe „Portraits of Courage“, für die er verwundete und traumatisierte US-Soldaten portraitierte, die unter seinem Befehl im Einsatz waren.
Wird hier die Frage nach Recht oder Unrecht nicht viel ehrlicher gestellt? Nicht viel ehrlicher die eigene Schuld untersucht? Hat die Kunst hier nicht sogar einen echten Nutzen, der bei den vorherigen Beispielen nicht ersichtlich war: Hier wird Kunst als Mittel der persönlichen Wiedergutmachung auserwählt.
Doch Bush, der seine eigene Schuld in Bildern verarbeitet, ist kein Künstler, weil er für sich nicht in Anspruch nimmt, Künstler zu sein. Ganz einfach. Niemand wird ihn zum Künstler erklären, wenn er es nicht für sich selbst in Anspruch nimmt und umgekehrt wird auch niemand Ai Weiwei absprechen, dass er ein Künstler ist, obwohl er schlechte Kunst macht, solange er erklärt, dass er Künstler ist.
Kunst ist also eine Frage der Haltung. Aber damit der Verdruss über Kunst verschwindet, der hier deutlich wurde, und Kunst endlich wieder einen Sinn hat, müsste es, bevor es darum geht, welche Haltung, ein Künstler zu einem gewissen politischen Thema einnimmt, das er mit seiner Kunst bearbeitet, um die Frage gehen, wie er vor allem sich selbst beweist, dass er Künstler ist. Nicht weil ein Kunstpublikum einem Künstler grundsätzlich misstrauen soll, sondern weil es aus dem Weg, auf dem der Künstler zu dieser Überzeugung, diesem Selbstverständnis gelangt, der heute noch zusätzlich durch die Frage erschwert wird, ob es angesichts von Terror und Flüchtlingskrise angemessen ist, weiter Kunst zu machen, eine viel größere Lehre, einen viel größeren Nutzen ziehen könnte, als aus Kunstwerken. Weil vielleicht sogar der Weg des Künstlers dorthin, zu diesem Selbstverständnis, zu dieser Überzeugung die eigentliche Kunst ist.
Kunst hat also mehr mit Leben, mit Lebensplanung zu tun, als mit der Herstellung von Kunstwerken. 
Diese Haltung lässt sich auch aufs Kunstpublikum übertragen. Dann gilt: Ich interessiere mich für Kunst. Wenn ich mir schon Zeit für Kunst nehme, wenn mir Kunstgenuss wichtig ist und wenn es bei Kunst vor allem um mich selbst geht, um Zeit für mich selbst und mit mir selbst geht – ich gehen davon aus, dass es beim Kunstbetrachten mehr um Zeit für einen selbst geht, durch die man zu einem Erkenntnisgewinn kommen kann, als um einen direkten Erkenntnisgewinn durch Kunst – dann muss ich mich zwingend in noch stärkerem Maße auch mit der Wirklichkeit auseinandersetzen. 
In so einer Anspruchshaltung, egal ob sie nun von außen kommt oder ob der Künstlerin sie sich selbst auferlegt hat, sieht Hanno Rauterberg jedoch eine Gefahr. Die Gefahr einer „von neuen Grenzen durchzogenen Kunst“, die er an der Frage festmacht, ob es erlaubt ist, „dass ein Christ sich anmaßt über das Seelenleben eines Muslims zu befinden." Also ob Künstler nur über das, was sie selbst erlebt haben, Kunst machen dürfen. 
Am deutlichsten für "Ja" spricht dabei nicht einmal, dass der Erkenntnisgewinn durch Kunst und die Berührung von Kunst für das Publikum wahrscheinlich größer wären, würden sich Künstler nur mit Themen beschäftigen, die sie selbst betreffen, sondern die Empörung über die Selbstherrlichkeit mit der Künstler sich mit gewissen Themen auseinanderzusetzen und über deren Selbstüberschätzung.
Niemand erwartet mehr automatisch ein Mehrwert, wenn man sich künstlerisch mit gewissen Themen auseinandersetzt. Nur weil erstens das Thema, um das es geht, wichtig und dringlich und zweitens Kunst grundsätzliche bedeutsam ist, sodass nach dieser Logik eine Beschäftigung von Kunst mit einem gewissen Thema dessen Übertragung in höhere Sphären bedeutet.
Auch Rautenberg beschreibt diese Entwicklung, allerdings mit großem Bedauern: „Die Vorstellung, dass die Kunst einen universalistischen Freiraum öffnet, indem alles von allen gedacht und erprobt werden darf, diese Vorstellung wird zunichte gemacht.“ 
Ich behaupte das Gegenteil: Es ist nicht alles erlaubt und nicht alles möglich. Natürlich hat Kunst mit dem Glauben, etwas Besonderes zu sein und dementsprechend mit Sich-Überlegen-Fühlen zu tun. Aber entstehen aus diesem Glauben nicht eher Einschränkungen, anstatt die allergrößte Freiheit? Einschränkungen, die die Verantwortung, die man als Künstler trägt und die Bringschuld, die man vor allem sie selbst gegenüber verspürt, mitbringen.

Rauterberg schreibt weiter: „Wohin das segregierende Denken (...) am Ende führen wird ist leicht abzusehen. Da die Kunst nicht länger frei und aus sich selbst heraus wertvoll ist, muss sie von der Biografie des Künstlers beglaubigt werden. Und sollte dieser Künstler kein aufrecht authentisches Leben führen, fällt der Wert seiner Kunst unweigerlich in sich zusammen.“
Muss man sich vor dieser Entwicklung fürchten, sie aufhalten oder ist es nicht eher schon immer so gewesen? Normalzustand also: Es gibt keine Kunst, die aus sich selbst heraus Kunst ist. Kunst – egal ob man sie dem Bereich Ethik oder dem Bereich Ästhetik zuordnet, zwischen denen sowohl Saltz auch als Rauterberg unterscheiden – ist immer erst dann Kunst, wenn der Künstler befindet, dass ein Werk fertigt ist. Dies ist nicht nur einer der schwersten Momente beim Kunst-Machen, neben dem Sich-Aufraffen vor der leeren Leinwand, sondern vielleicht auch derjenige, der am meisten mit dem Künstler selbst zu tuen hat, damit zusammenhängt, wie ich als Künstler zu mir selbst stehe. Die Entscheidung, ob etwas Kunst ist, hängt am stärksten davon ab, ob ich mich erfolgreich so verhalten habe, dass am Ende mein Selbstwertgefühl und meine Selbstzufriedenheit ausreichen, um eine Sache zur Kunst zu erklären. Der einzig nützliche Künstler ist also nicht der moralisierende, anprangernde, aber auch nicht der verspielte, verträumte, den sich Rauterberg wünscht, sondern der sich selbst hinterfragende Künstler, der immer wieder sich selbst etwas beweisen muss, seine eigene Nützlichkeit unter Beweis stellen muss.