Dienstag, 10. Oktober 2017

KUNST und Jamaika


Superkunstjahr 2017, Superwahljahr 2017, Superschreckensjahr 2017: Das starke Abschneiden der AfD bei der Bundestagswahl wurde von den Demoskopen zwar vorausgesagt, hat am Wahlabend aber doch alle ziemlich tief erschüttert und teilt Deutschland nach ‘61 nun ein zweites Mal. In „Dunkeldeutschland“, ein großer blauer Schandfleck auf der rechten Seite unserer Karte (blau steht für ein starkes Abschneiden der AfD) und ein Gebiet links mit nur vereinzelten blauen Punkten. Das gute Deutschland, der Westen mit seiner „Wir schaffen das. Digital first. Bedenken second.“-Mentalität.
Es tut gut, einen Sündenbock ausfindig gemacht zu haben und dem Ärger Luft zu machen, indem man eine breite Masse männlicher Ossis als „Hinterwäldler“, „Abgehängte“, „Die, die nur schreien können“ oder einfach nur „Nazis“ beschimpft, um sich so weit wie möglich von ihnen zu distanzieren. Zur Wiederherstellung der eigenen Ehre und des guten Ansehens im Ausland. Weil wir keine Lust haben, nur wegen einer Handvoll zurückgebliebener „Ostalgiker“ unseren gerade erst liebgewonnenen Status als Anführer der freien Welt schon wieder zu verlieren.
Dabei weiß jeder heimlich ganz genau, dass es sich in Wahrheit um ein gesamtdeutsches Problem handelt: Bei der Bundestagswahl kam die AfD auch in Baden-Württemberg, in Bayern, Berlin, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland auf jeweils über 10 Prozent. Deren starkes Abschneiden ist also nicht bloß die Folge der Doppeldiktatur, unter der die Menschen im Osten zu leiden hatten. 
Und wenn man etwas den Blick schweifen lässt, dann ist das Erstarken der Nationalisten, erst recht nicht ein ausschließlich deutschen Problem, sondern ein europaweites, wenn nicht sogar ein globales: Anhaltendes Bangen bis zur letzten Sekunde in den Niederlanden, in Österreich und in Frankreich, ob den Rechten nicht doch der Wahlsieg gelingt. Wilders, Le Pen oder Hofer waren kurz davor.
Trump hat es geschafft, ist seit dem 20. Januar Präsident und mit ihm die „Alt-Right“- und „White Supremacy“-Bewegung. England stimmte für den Brexit. Polen und Ungarn schotten sich ab.
Das starke Abschneiden der Nationalisten sorgt dafür, dass auch die Parteien der Mitte weiter nach rechts rücken. Aktuell erleben wir das in Österreich bei der ÖVP mit ihrem Kanzlerkandidaten Außenminister Sebastian Kurz. Der einstige Integrationsstaatssekretär vertritt heute einen scharfen Anti-Ausländer-Kurs.
Die CSU in Bayern will die „rechte Flanke“ schließen und stellte angesichts dieser Richtungsentscheidung kurz sogar die Fraktionsgemeinschaft mit der gemäßigteren Schwesterpartei in Frage.
2017 ist auch ein Trauerjahr: Attentate in Paris, London, Stockholm, Manchester, Marseille, Hamburg, Barcelona, Cambrils und Turku. Trauer um die 32-jährige Heather Heyer, die ums Leben kam als im August während einer rechtsextremen Demonstration in Charlottesville ein weißer Rassist in eine Gruppe von Gegendemonstranten fuhr. Trauer um die vielen Opfer des Amokschützen von Las Vegas. Trauer um die zu Unrecht Inhaftierten in der Türkei. Deniz Yücel, Mesale Tolu mit ihrer kleinen Tochter und Peter Steudtner.
So sieht also die Ausgangslage beim Antritt einer zukünftigen neuen Bundesregierung aus, bei der es sich möglicherweise um ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen handeln wird. Sofern die nach einer historischen Wahlniederlage heftig taumelnde SPD eine Neuauflage der GroKo weiter ablehnt.
Für viele hat das Ergebnis der diesjährigen Bundestagswahl aber auch etwas Gutes: Die AfD im Parlament gibt denjenigen wieder eine Stimme, die sich zuletzt nicht mehr repräsentiert fühlten, während Jamaika, eine bürgerlich-ökologisch-liberale Koalition, ein weder-rechts-noch-links-Bündnis, das es noch nie zuvor auf Bundesebene gegeben hat, für ein Deutschland steht, wie es dessen Bewohner gerne hätten und für deren eigene Vorzeigevarianten.
Für ein Deutschland, das nach außen schon längst genau so wirkt, auch wenn das dessen Bürger bisher einfach noch nicht erkannt haben. 
„Deutschland ist der fortschrittliche, moralische, weise Staat auf diesem Planeten – erstaunlich“, schwärmt Hollywoodstar Richard Gere gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland und bekennt als er sich anlässlich der Berlinale einige Tage in der Hauptstadt aufhält und in seiner Funktion als Klimakämpfer und Vorsitzender der International Campaign for Tibet von Kanzlerin Merkel und Grünen-Urmutter Claudia Roth empfangen wird, mit der ihn eine jahrelange Freundschaft verbindet: „Wir blicken nach Deutschland und suchen Inspiration.“
Nun haben wir uns endlich selbst erkannt: Laptop, Lederhose, Homo-Ehe, E-Motor.
Namensstifter Jamaika steht währenddessen für Sommer, Sonne, Reggae, Dreads, Drogeneinfluss, gute Vibes und Gelassenheit. Ein Sehnsuchtsbild, das einen krassen Gegensatz bildet zur bedrückenden Weltlage. 
Auch Kunst speist sich aus Sehnsucht und Hoffnung und entwickelt daraus ihre Kraft. Und auch bei der Beurteilung von Kunst geht es genauso immer um mehr, als reell da ist. 
Mit Kunst allein kann man nichts in der Welt verändern, aber mit der Anspruchshaltung an sich selbst als Künstler, die aus dem eigenen Ideal Kunst hervorgeht. Kunst kann dann etwas bewirken, wenn man unter Kunst nicht Kunstwerke versteht, sondern den Selbstanspruch, der aus der Künstlerrolle erwächst, und die daraus entstehende Antriebskraft.
Künstler-Sein bedeutet, sich selbst vor Augen zu halten: Ich will Künstler sein, deshalb muss ich besser sein als die anderen, kreativer sein, leistungsorientierter, anspruchsvoller, aufmerksamer, unzufriedener, unnachgiebiger, visionärer, extremer und radikaler. Kunst lebt von unerreichbaren Ansprüchen.  Kunst bedeutet über sich selbst hinauszuwachsen.
Ich selbst bin innerlich zerrissen zwischen der Einsicht, dass es notwendig ist, anderen zu helfen, dem Bedürfnis anderen zu helfen, der Ahnungslosigkeit, wie das mit Kunst gehen soll, dem Eingeständnis, dass es vielleicht gar nicht geht und der Notwendigkeit weiter Kunst zu machen, um mir selbst zu helfen. Ich fühle mich selbst am meisten hilflos, deshalb mache ich Kunst.
Doch irgendwann sollte jeder mit seiner Kunst über den Zustand der permanenten Selbstbespiegelung hinauskommen und zwar mittels ebenjener Kunst. Indem man mit Kunst die eigenen Probleme verarbeitet und durchs Kunst-Machen, genug Selbstvertrauen, Selbstzufriedenheit gewinnt, sodass die eigenen Probleme nicht mehr alles andere überlagern. Es gibt also doch die Kategorien „gelungen“ und „misslungen“ in der Kunst, die man an sich selbst am Heilfaktor der Kunst festmachen kann.
Dass Kunst einem Künstler hilft mit dem eigenen Leben klarzukommen, das ist für mich die wahre Wirkung von Kunst.